Rede des Ministerpräsidenten zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus

Gemeinsames Gedenken von Landtag und Landesregierung

Ein Schwerpunkt des Gedenkens ist in diesem Jahr der Völkermord an den Sinti und Roma. „Die Würde des Menschen ist unantastbar und bleibt unantastbar. Dafür stehen wir in Nordrhein- Westfalen gemeinsam ein. Wir stellen uns gegen jede Art der Diskriminierung. Gegen Antisemitismus, gegen Antiziganismus, gegen jede Art von Menschenfeindlichkeit“, so der Ministerpräsident. Lesen Sie hier die gesamte Rede im Wortlaut.

26. Januar 2024
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Herr Landtagspräsident, sehr geehrter Herr Dr. Rado, sehr geehrter Herr Franz, sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter der jüdischen Gemeinden, sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter der Gemeinschaft der Sinti und Roma. Ganz besonders sehr geehrte Herren Steinberger, verehrte Ehrengäste, Gäste, liebe Kolleginnen und Kollegen! 

Wir haben zusammen gelacht und haben zusammen geweint. Wir nehmen uns einfach als Menschen wahr. Die Religion spielt keine große Rolle. Das sind Schilderungen von muslimischen und jüdischen Jugendlichen, die gemeinsam Auschwitz besucht haben. Organisiert vom Verein „begegnen“ aus Bielefeld. Wer als Jugendlicher einmal ein Konzentrationslager besucht hat, wer die Baracken und Krematorien, die zehntausenden Schuhe, die vielen Koffer, Brillen und Haare der Ermordeten gesehen hat: Ich bin der festen Überzeugung, der sieht die Welt danach mit völlig anderen Augen. Er erkennt das Ausmaß des Holocaust, das Leid, die Dimension dieses Menschheitsverbrechens. Der erkennt, dass NS-Unrecht, Deportation und KZ-Haft nur ein Ziel hatten: Menschen ihrer Würde zu berauben, sie bis aufs Blut auszunutzen, ihnen das letzte bisschen Kraft zu rauben und sie dann zu töten. 

Deshalb arbeiten wir daran, dass jede Schülerin und jeder Schüler in Nordrhein-Westfalen mindestens einmal während der Schulzeit die Chance erhält, ein ehemaliges Konzentrationslager oder eine NS-Gedenkstätte zu besuchen. Das ist unser Anspruch und das gehen wir mit ganzer Kraft an. Gemeinsam mit vielen tausend Lehrerinnen und Lehrern, den ich dafür sehr, sehr dankbar bin. Gemeinsam auch mit vielen Initiativen wie dem Verein „begegnen“, die wir bei ihrer wichtigen Arbeit unterstützen. 

Wir haben hier in Nordrhein-Westfalen 29 Gedenkstätten, die hervorragende Arbeit leisten. Und auch die werden wir in Zukunft weiterhin bestmöglich unterstützen. Darüber hinaus werden wir auch digitale Möglichkeiten nutzen. Die Stiftung Auschwitz-Birkenau bietet digitale Live-Führungen durch das ehemalige Konzentrationslager an. Heute Nachmittag werde ich zusammen mit Schülerinnen und Schülern an einer solchen Führung teilnehmen. 

Die Herzen von Kindern und Jugendlichen zu erreichen, sie stark zu machen gegen den Hass. Darum geht es. Wir müssen auch und vor allem die Kinder und Jugendlichen erreichen, die mit einem israelfeindlichen und antisemitischen Geschichtsbild aufgewachsen sind. Wir müssen alles dafür tun, damit sie Jüdinnen und Juden einfach als Menschen wahrnehmen. Damit diese Jugendlichen verstehen, noch wichtiger begreifen, am allerwichtigsten fühlen, dass Menschen jüdischen Glaubens nie wieder Angst vor Verfolgung und Vernichtung ausgesetzt werden dürfen. Dass sie einen sicheren Staat brauchen. Auch heute. Gerade heute.

Vor inzwischen 111 Tagen verübte die Hamas den Terrorangriff auf Israel. Seit dem Holocaust wurden an einem einzelnen Tag nicht mehr so viele Jüdinnen und Juden ermordet wie an diesem 7. Oktober 2023. Dennoch wurden Hass und Antisemitismus auch auf unsere Straßen hier bei uns in Nordrhein-Westfalen getragen. Wir stellen uns dem entgegen, stellen uns an die Seite Israels. Wir trauern um die Toten und bangen um die vielen Geiseln, die noch immer in den Händen der Terroristen sind. Zugleich fühlen wir mit den Zivilisten in Gaza, die von der Hamas teilweise als Schutzschilde missbraucht werden, die unter den Kämpfen und katastrophalen Bedingungen im Gazastreifen leiden. Wir benennen aber auch weiter klar Ursache und Wirkung. Nie wieder bedeutet: Die Sicherheit Israels ist für uns nicht verhandelbar. Bedeutet, dass Israel ein Recht auf Selbstverteidigung hat. Nie wieder bedeutet auch: Menschenwürde ist unteilbar. Mitgefühl ist unteilbar. In der Gegenwart und in der Erinnerung. 

Heute steht das Leiden der Sinti und Roma im Mittelpunkt unseres Gedenkens. Sinti und Roma wurden als sogenannte Zigeuner auch vor 1933 schon vielfach diskriminiert. Ab 1933 wurden sie schrittweise ausgegrenzt, entrechtet und verfolgt. Auch wenn Theresia Neger aus gesundheitlichen Gründen heute nicht hier sein kann, sehen wir gleich den Film mit ihren Erinnerungen. Erinnerungen an ihre Zeit als Kind im Ghetto im besetzten Polen. Danke Ihren Cousins, den Herren Raimund Steinberger und Franziskus Steinberger, dass Sie hier sind. Bitte grüßen Sie Ihre Cousine schön von uns und wünschen wir ihr gemeinsam gute Genesung. Herzlichen Dank, dass Sie stellvertretend heute hier für ganz viele bei uns sein können. 

Verbrechen der Nationalsozialisten an den Sinti und Roma waren ein Völkermord. Schrecklicher Höhepunkt einer langen, langen Verfolgungsgeschichte. Doch auch heute sind Sinti und Roma in vielen Fällen von teils offener und teils subtiler Diskriminierung betroffen. Aber dabei sind sie seit Jahrhunderten Europäer und Deutsche. Mit eigener vielfältiger Kultur, Sprache und Musik, die unser Land, die unseren Kontinent bereichern. 

Gutes Zusammenleben ist unendlich wertvoll. Wir müssen es fördern und schützen. Das Land baut darum eine Meldestelle Antiziganismus auf als Anlaufstelle für Betroffene und um den Schutz und das gleichberechtigte Zusammenleben zu verbessern. 

Die Würde des Menschen ist unantastbar und bleibt unantastbar. Dafür stehen wir in Nordrhein- Westfalen gemeinsam ein. Wir stellen uns gegen jede Art der Diskriminierung. Gegen Antisemitismus, gegen Antiziganismus, gegen jede Art von Menschenfeindlichkeit. Unsere Demokratie ist stark, unsere Zivilgesellschaft ist stark. Und das zeigen die vielen Demonstrationen für Demokratie und gegen Rechtsextremismus in diesen Tagen. Sie sind ein Signal an die Feinde der Demokratie, dass die Mehrheit in diesem Land unsere freiheitliche Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Vielfalt verteidigt. Es erfüllt mich mit Freude, mit Stolz, Dankbarkeit und Erleichterung, dass sich in diesen Tagen hunderttausende Menschen in allen Teilen unseres Landes den Feinden der Demokratie entgegenstellen. In allen Regionen, in großen und in kleinen Städten. Sie alle zeigen: Die demokratische Mitte unserer Gesellschaft ist die übergroße Mehrheit. Und unsere Demokratie ist wehrhaft. Jetzt kommt es darauf an, weiter gegenzuhalten, Flagge zu zeigen und für unsere Werte einzustehen. Das kann jeder und jede einzelne jeden Tag tun. Und darum bitte ich auch die Menschen in Nordrhein-Westfalen: zeigen wir gemeinsam auch im Alltag Zivilcourage für Menschenwürde und für Demokratie. Für unser Land.