Schmerzhafte Wahrheit
Gastbeitrag in den Tageszeitungen Hürriyet und Kölner Stadtanzeiger
In einem Gastbeitrag in den Tageszeitungen Hürriyet und Kölner Stadtanzeiger bittet Ministerpräsident Hendrik Wüst 20 Jahre nach dem Anschlag in der Kölner Keupstraße um Entschuldigung für Fehler der Behörden.
von Hendrik Wüst, Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen
Der 9. Juni 2004 war in Köln-Mülheim ein Sommertag wie aus dem Bilderbuch. Auch auf der Keupstraße verbrachten viele Menschen den Tag unter freiem Himmel. Doch um kurz vor 16 Uhr fand das bunte und fröhliche Treiben auf der Straße, die wie kaum eine sonst in Deutschland geprägt ist von den Menschen, die selbst oder deren Vorfahren zu uns gekommen sind, ein mörderisches Ende. Eine gewaltige Explosion erschütterte die Nachbarschaft. Die Sprengkraft der Nagelbombe, die vor dem Friseursalon mit der Hausnummer 29 gezündet worden war, war so groß, dass Splitter noch in weit über 100 Meter Entfernung gefunden wurden.
Über 20 Menschen wurden durch den hinterhältigen Anschlag teilweise schwer verletzt. Es gleicht einem kleinen Wunder in der großen Katastrophe, dass niemand starb. Aber die Wunden, die dieser Anschlag im Leben der Opfer und im Leben der Menschen auf der Keupstraße und in Köln-Mülheim gerissen hat, sitzen noch heute tief.
Nicht immer sind es die körperlichen Wunden oder die materiellen Schäden, die den größten Schmerz verursachen. Ebenso häufig sind es die seelischen Verletzungen. Die Anwohner der Keupstraße haben nicht nur den Schock des Anschlags und die Angst um das eigene Leben erfahren müssen, sondern auch Vorverurteilung und Diffamierung. Denn im Jahr 2004 ordneten die ermittelnden Behörden den Anschlag zunächst als „Milieutat“ ein. Jahrelang blieben die wahren Hintergründe unklar. In der Folge wurde teilweise auch gegen die Betroffenen und ihre Familienangehörigen ermittelt. Erst die Selbstenttarnung der neonazistischen Terrorvereinigung „NSU“ mehr als sieben Jahre später führte zur Aufklärung des Anschlags in der Keupstraße.
Die schmerzhafte Wahrheit ist: im Laufe der Ermittlungen wurden in der Keupstraße aus Opfern zeitweise Tatverdächtige gemacht. Mit allem Recht haben die Menschen darauf mit Enttäuschung und großer Wut reagiert. In einer Zeit, in der die Betroffenen Unterstützung und Zuwendung brauchten, schlugen ihnen Ressentiments und Vorwürfe entgegen. In der Keupstraße hat man diese Zeit auch als „Anschlag nach dem Anschlag“ bezeichnet. Eine Bezeichnung, die menschlich nachvollziehbar ist und zeigt, wie groß der Schmerz war.
An diesem „zweiten Anschlag“ haben viele einen Anteil. Auch der Staat, dessen vorderste Aufgabe es ist, die Menschen zu schützen, muss eingestehen, dass er in der Keupstraße an diesem Anspruch gescheitert ist. Er hat die Menschen nicht geschützt. Er hat sie weder vor körperlichen und seelischen Schäden noch vor falschen Verdächtigungen bewahrt. Als Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen bitte ich deshalb alle, denen so lange nicht geglaubt wurde und die fälschlicherweise selbst ins Visier der Ermittlungen gerieten, obwohl sie Opfer waren, um Entschuldigung.
In Nordrhein-Westfalen haben wir aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt und Vorkehrungen getroffen, damit so etwas in Zukunft möglichst nicht noch einmal passiert. Polizei und Justiz spiegeln heute selbst die gesellschaftliche Vielfalt unseres Landes stärker wider. Sie gehen sensibler mit Opfern um und sind besser darin geworden, Gewaltdelikte mit rassistischem Hintergrund als solche zu erkennen. Das ist ein wichtiger Schritt auf Seiten der staatlichen Institutionen.
Doch auch die Gesellschaft und die Medien haben Fehler gemacht – das zeigt die Nutzung des unsäglichen Begriffs der „Dönermorde“ für die Anschlags- und Mordserie des noch nicht enttarnten NSU. Das Unwort des Jahres 2011 wurde maßgeblich von deutschen Zeitungen genutzt und verbreitet. Es ist wichtig, die Quelle solcher Fehler, die auch zu den Falschverdächtigungen in der Keupstraße geführt haben, klar zu benennen: Es war das engstirnige Denken in geistigen Schubladen. Gerade jetzt, wo rechtsradikale Parteien mit Vorurteilen und Ausgrenzung wieder erfolgreich Politik machen, muss die demokratische Mitte gemeinsam gegen ein solches Denken einstehen.
Heute – 20 Jahre nach dem abscheulichen Anschlag – ist die Erinnerung daran Anlass für ein fröhliches Fest, bei dem Menschen zusammenkommen. Wir feiern das Leben, das Überleben und das Zusammenleben. Wir feiern bei Birlikte, dass die Angst, die die Menschenfeinde des NSU mit ihren grausamen und sinnlosen Taten verbreiten wollten, nicht gewonnen hat. Und wir denken heute ganz besonders an all jene, die noch immer mit den Wunden und Narben des Anschlags kämpfen – egal, ob sie diese auf der Haut oder im Herzen tragen. Nordrhein-Westfalen steht an ihrer Seite.