Ministerin Steffens: Contergan und seine Folgen - Unabhängiger Forschungsbericht zur Haltung des Landes im Skandal der 60er Jahre veröffentlicht

13. Mai 2016

Das Land hat heute einen 690 Seiten starken Forschungsbericht zur eigenen Rolle im Contergan-Skandal der 60er Jahre veröffentlicht.

Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung

Das Land hat heute einen 690 Seiten starken Forschungsbericht zur eigenen Rolle im Contergan-Skandal der 60er Jahre veröffentlicht. Die Studie unter dem Titel „Die Haltung des Landes Nordrhein-Westfalen zum Contergan-Skandal und den Folgen“ stammt vom Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität  Münster, der Ende Mai 2013 vom Gesundheitsministerium  den Auftrag zu der historischen Aufarbeitung erhalten hatte. Verfasser ist – unter Projektleitung von Lehrstuhl-Inhaber Prof. Dr. Thomas Großbölting und zusätzlicher Begleitung durch einen unabhängigen wissenschaftlichen Beirat – Niklas Lenhard-Schramm.
 
„Mit der historischen Aufarbeitung legen wir gegenüber den Opfern von Contergan, ihren Angehörigen und der gesamten Öffentlichkeit das damalige Handeln des Landes durch unabhängige Forscher offen“, erklärte Gesundheitsministerin Barbara Steffens. „Auf diese Informationen haben die Opfer und ihre Eltern, die bis heute unter den Folgen von Contergan leiden, ein Recht. Der  Contergan-Skandal ist immer wieder Thema öffentlicher Diskussionen und Darstellungen. Eine wissenschaftlich-fundierte Darstellung der Rolle des Landes fehlte jedoch bisher“, so Steffens weiter.
 
Allein in Deutschland wurden durch das Medikament Contergan mit dem Wirkstoff Thalidomid, das im Jahr 1957 als Schlaf- und Beruhigungsmittel auf den Markt gebracht und Ende 1961 von der Herstellerfirma zurückgezogen wurde, etwa 5000 Menschen geschädigt. Von ihnen leben heute noch etwa 2400, davon rund 800 in Nordrhein-Westfalen.
Nordrhein-Westfalen spielte im Contergan-Verfahren in zweifacher Hinsicht eine zentrale Rolle: Zum einen fiel das Präparat des Herstellers Chemie Grünenthal mit seinem Firmensitz in Stolberg bei Aachen hauptsächlich in die Zuständigkeit der nordrhein-westfälischen Gesundheitsaufsicht, die seinerzeit beim Innenministerium lag. Zum anderen oblag die Strafverfolgung und Aufklärung des Contergan-Skandals den nordrhein-westfälischen Justizbehörden. Insoweit hat die Studie, zugleich Doktorarbeit des Verfassers, bezogen auf die damalige Rolle des Landes drei Schwerpunkte:

  • die Rolle der staatlichen Arzneimittelaufsicht vor und während der Vertriebsphase Contergans,
  • die gesundheits- und sozialpolitischen Reaktionen des Landes,
  • die strafrechtliche Aufklärung, die sich zu dem bis dahin umfangreichsten Strafrechtsverfahren der neueren deutschen Geschichte auswuchs.
Niklas Lenhard-Schramm sagte: „Ein arzneimittelrechtliches staatliches Zulassungsverfahren im heutigen Sinne existierte seinerzeit noch nicht. Die Unbedenklichkeit von Medikamenten wurde damals durch die Herstellerfirmen in eigener Verantwortung geprüft. Zwischen dem medizinisch-pharmazeutischen Bereich auf der einen und der staatlichen Sphäre auf der anderen Seite bestand eine große Distanz. Wesentliche Kompetenzen waren in den vorstaatlichen Raum verlagert. So wandten sich Ärzte bei beobachteten Arzneimittelschäden an den jeweiligen Hersteller, vereinzelt vorsichtig an eine Fachöffentlichkeit, nur in absoluten Ausnahmefällen an die Behörden. Die staatliche Arzneimittelaufsicht war damals von einem passiven Amtsverständnis geleitet, nach dem sie beispielsweise nur zu reagieren hatte, wenn entsprechende Anträge gestellt oder offizielle Informationen an sie geleitet wurden. Eine rechtliche Handhabe, Arzneimittelfirmen die Herstellung und den Vertrieb von Medikamenten zu untersagen, bestand von 1959 bis zum Inkrafttreten des Arzneimittelgesetzes 1961 nicht. Von dem Verdacht auf embryonale Schäden durch Thalidomid-Einnahme erfuhren die obersten Gesundheitsbehörden der Länder erst sechs Tage vor der Marktrücknahme von Contergan durch die Firma Grünenthal.“
 
Zudem sei ein relativ unkritisches Verhalten zu Medikamenten in der bundesrepublikanischen Gesellschaft bis in die 1960er Jahre vorherrschend gewesen.
Als in Fachkreisen erste mögliche schwere Nebenwirkungen (Nervenschädigungen) von Contergan beobachtet wurden, habe der Contergan-Hersteller mit gezielter Desinformation, dem Verschweigen u. a. von Nebenwirkungserkenntnissen und Verzögerungstaktiken bis hin zur angedrohten Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegenüber dem Staat so lange wie möglich versucht, das Medikament mit hohen Verkaufszahlen am Markt zu halten.  „Der Hersteller hätte vielen Menschen großes Leid ersparen können, wenn er nach den zahlreichen Hinweisen auf schädliche Nebenwirkungen Contergan früher vom Markt genommen hätte“, betonte Ministerin Steffens. „Ich hätte mir aber auch mehr Mut von Seiten der Verwaltung gegenüber Grünenthal gewünscht, weiß aber, dass heutiges Wissen und heutige Eingriffsmöglichkeiten nicht auf die damalige Zeit übertragen werden können“, so die Ministerin weiter.
 
Auch nach der Marktrücknahme zeigte sich der Staat überfordert. Es bereitete den Landesbehörden massive Schwierigkeiten, die Wirkung Contergans klären zu lassen, die Zahl der Betroffenen festzustellen und Contergan zu verbieten. Geschädigte und Hilfesuchende stießen auf eine Gesundheitsverwaltung in Abwehrhaltung. Eine Aufklärung der Bevölkerung erfolgte nicht und die staatlichen Hilfsmaßnahmen erwiesen sich vielfach als unzureichend.
 
Gegenstand der Studie sind auch die zivil- und insbesondere strafrechtlichen Folgen. Die Geschädigten konnten zivilrechtliche Ansprüche aufgrund der Rechtslage, insbesondere der individuellen Beweislast, nicht durchsetzen. Da Grünenthal jedwede Kausalität und jedwedes Verschulden bestritt, lag die Beweislast in den Zivilverfahren voll und ganz bei der klagenden Seite. Diese Last war ohne die Feststellung der Schuld im Strafverfahren kaum zu bewältigen.
 
Nachdem die strafrechtlichen Ermittlungen zunächst „behäbig“ durchgeführt wurden, forcierte Staatsanwalt Dr. Josef Havertz diese ab 1962. Kurz nach dem Amtsantritt von Justizminister Josef Neuberger in NRW wurde Anklage erhoben. Es folgte der bis dahin umfangreichste Strafprozess der neueren deutschen Rechtsgeschichte.
 
Die lange Dauer des gesamten Verfahrens war aber nicht nur dessen Umfang, sondern auch großen prozessualen und materiellrechtlichen Problemen geschuldet; umfassende Berichtspflichten sowie Dienstaufsichtsbeschwerden kamen hinzu. Infolge von Verhandlungen, an denen auch die Staatsanwaltschaft beteiligt war, kam es zur Einstellung des Strafverfahrens genau neun Jahre nach Einleitung des Ermittlungsverfahrens verbunden mit einer Entschädigungszahlung. 100 Mio. DM der Firma Grünenthal, ergänzt durch 100 Mio. DM durch den Bund, flossen aufgrund eines Bundesgesetzes in die heutige Contergan-Stiftung zur finanziellen Unterstützung der Opfer.
 
An der viel kritisierten Einstellung des Verfahrens, die Grünenthal zur Voraussetzung für ihre Entschädigungszahlung machte, waren die Verteidigung, Nebenkläger, Staatsanwaltschaft und Gericht beteiligt. Sie wurde von den drei zeichnenden Staatsanwälten so gewertet: „Die Unterzeichner sind nach wie vor der Auffassung, dass eine Erledigung des Verfahrens gemäß § 153 StPO unter den bekannten Voraussetzungen zwar eine schlechte, derzeit gleichwohl die beste Lösung darstellt.“ (Forschungsbericht, S. 604). Hintergrund war die immer drängendere Notwendigkeit von materiellen Unterstützungsleistungen für die Contergan-Opfer sowie der nicht absehbare inhaltliche und zeitliche Verlauf des Strafverfahrens und die damit verbundene Gefährdung  etwaiger zivilrechtlicher Ansprüche. Zu der langen Verfahrensdauer trugen die Unerfahrenheit in Großverfahren, aber auch die völlig defizitäre Gesetzeslage wesentlich bei.
 
Evident wird, so Lenhard-Schramm, in allen Themenbereichen der Arbeit die Bedeutung der zentralen Rolle von Einzelpersonen, die sich gegen etablierte Normen und Erwartungen stellten, dafür aber oft massive Kritik einstecken mussten. Erdrückend deutlich wird die strukturelle Unterlegenheit aller Behörden gegenüber der Firma Grünenthal. Diese konnte erheblich schneller größere Ressourcen mobilisieren, etwa kostspielige Gutachter und Fachkräfte. Die Stolberger Firma engagierte im Strafverfahren die absolute Elite der deutschen Strafverteidiger und nutzte die Presselandschaft mithilfe einer eigenen Presseabteilung, während den Beamten allzu weitgehende Erklärungen gegenüber der Presse verwehrt blieben, ja denen auch hier mit Dienstaufsichtsbeschwerden und Schadensersatzdrohungen begegnet wurde.
 
Ministerin Steffens: „So, wie die Behörden damals aufgestellt waren, waren sie nicht imstande, auf die katastrophalen Folgen von Contergan in einer Weise zu reagieren, wie man es heute erwarten würde. Aus heutiger Sicht waren sowohl die Rahmenbedingungen, nach denen Medikamente auf den Markt kommen konnten, als auch der Umgang der Verwaltung mit dem Contergan-Skandal verheerend. Das ist und bleibt aus heutiger Sicht zutiefst bedauerlich.“
 
Die Contergan-Geschädigten und ihre Angehörigen hat Ministerin Steffens für den 22. Juni 2016, Einlass: 09:30 Uhr, Beginn: 10:00 Uhr zur Vorstellung und Diskussion der Ergebnisse in die Messe Düsseldorf eingeladen.
 
Hinweis: Ein druckfähiges Foto von der Pressekonferenz steht auf der Internetseite des Ministeriums zum Download zur Verfügung:
http://www.mgepa.nrw.de/ministerium/presse/fotos/index.php
 

Hintergrund:

Für die historische Aufarbeitung wurden mehr als 3000 Aktenbände, Ordner und Mappen aus zwölf Archiven ausgewertet. Die 690 Seiten starke Studie sowie eine 48-seitige Kurzfassung sind im Internet zu finden unter:

http://www.mgepa.nrw.de/ministerium/presse/pressethemen/20160513_Contergan/Forschungbericht_Contergan_Langfassung_2016_05_02.pdf (Langfassung)
und  http://www.mgepa.nrw.de/ministerium/presse/pressethemen/20160513_Contergan/Contergan-Kurzfassung.pdf (Kurzfassung)
  • Die Mitglieder des unabhängigen wissenschaftlichen Beirats, der die Arbeit der Forscherinnen und Forscher unterstützt hat: Prof. Dr. Willibald Steinmetz (Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld), Prof. Hans-Peter Haferkamp (Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Neuere Privatrechtsgeschichte und Deutsche Rechtsgeschichte, Universität zu Köln), Prof. Bettina Schöne-Seifert (Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin, Universität Münster) und Dr. Katrin Grüber (Leiterin des Instituts Mensch, Ethik und Wissenschaft, Berlin) sowie in beratender Funktion Dr. Frank Bischoff, Präsident des Landesarchivs NRW.
  • Das Land hat 2011 eine Langzeitstudie zum speziellen gesundheitlichen und psychosozialen Unterstützungsbedarf von Contergangeschädigten in Auftrag gegeben mit dem Ziel, ihre Lebenssituation zu verbessern. An der Studie (2011 – 2015, Kosten rund 430.000 Euro) waren rund 200 Contergangeschädigte beteiligt, die dabei durch ein „Peer-To-Peer” Projekt begleitet wurden. Dabei unterstützten speziell geschulte Personen, die selber Contergan bedingte Schädigungen aufweisen (peers), die Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer während der Durchführung der Studie. Das Peer-to-Peer-Programm wurde von der landeseigenen Stiftung Wohlfahrtspflege mit 338.500,- Euro unterstützt. Ziel des Landes ist nun auf Basis der Erkenntnisse des Gutachtens für den spezifischen Behandlungs- und Versorgungsbedarf die Einrichtung eines Schwerpunkt-Behandlungszentrums für Contergangeschädigte in NRW. 

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