Ministerin Steffens: Verbesserung der Versorgung contergangeschädigter Menschen – Start eines ambulanten Schwerpunktzentrums

27. April 2017

Die rund 800 contergangeschädigten Menschen in NRW leiden mit zunehmendem Alter verstärkt unter den Langzeitauswirkungen ihrer Beeinträchtigungen. Um die Versorgung der Betroffenen zu verbessern, nimmt ein ambulantes Schwerpunktzentrum zur Behandlung contergangeschädigter Menschen an der Dr. Becker Rhein-Sieg-Klinik in Nümbrecht seine Arbeit auf.

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Die rund 800 contergangeschädigten Menschen in Nordrhein-Westfalen leiden mit zunehmendem Alter verstärkt unter den Langzeitauswirkungen ihrer Beeinträchtigungen. Doch das Gesundheitssystem ist nicht auf ihre besonderen Bedürfnisse und Bedarfe ausgerichtet, und in der Ärzteschaft fehlen oftmals die notwendigen Erfahrungen bei Diagnose und Therapie. Um die Versorgung der Betroffenen zu verbessern, nimmt ein ambulantes Schwerpunktzentrum zur Behandlung contergangeschädigter Menschen an der Dr. Becker Rhein-Sieg-Klinik in Nümbrecht seine Arbeit auf.
 
„Das ambulante Schwerpunktzentrum ist ein wesentlicher Schritt zur Verbesserung der Versorgung conterganbetroffener Menschen in Nordrhein-Westfalen. Contergangeschädigte Menschen haben besondere Bedarfe. Diese müssen wir erkennen und ihnen die notwendigen Hilfen und Unterstützungsangebote zur Verfügung stellen“, erklärte Gesundheitsministerin Barbara Steffens bei der Eröffnung des Zentrums in Nümbrecht. „Ein weiterer Baustein ist, dass Ärztinnen und Ärzte sowie Therapeutinnen und Therapeuten, die die Betroffenen an ihrem Wohnort versorgen, durch Schulungen mit den besonderen Bedarfen der Zielgruppe und den entsprechenden Therapiemöglichkeiten vertraut gemacht werden. Ziel ist es, Betroffenen durch bedarfsgerechte Behandlung, Prävention und Unterstützung auch im Alter ein weitgehend selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Wir wollen sie gesundheitlich sowie in ihrem Alltags- und Arbeitsleben unterstützen“, so Steffens weiter.
 
Contergangeschädigte Menschen leiden unter den schweren gesund­heitlichen Auswirkungen des Wirkstoffs Thalidomid, der vor fast 60 Jahren unter dem Namen Contergan auf dem Markt war. Eine vom Land NRW in Auftrag gegebene Studie hat 2015 erstmals die besonderen Versorgungsbedarfe contergangeschädigter Menschen dokumentiert und unter anderem die Einrichtung eines Schwerpunktzentrums empfohlen.
 
Auf Initiative und unter der Moderation des NRW-Gesundheitsministeriums mit Beteiligung des Interessensverbands Contergangeschädigter e.V. NRW führten Gespräche mit Krankenkassen, Kassenärztlichen Vereinigungen, Ärztekammer Nordrhein und der Rhein-Sieg-Klinik zur Einrichtung des Schwerpunktzentrums und zur Sicherstellung der Finanzierung der Behandlungen. Die Rhein-Sieg Klinik hat durch eine ambulante Sprechstunde für contergangeschädigte Menschen jahrelange Erfahrung in der spezifischen Diagnostik und Therapie der Betroffenen.
 
„Wurden die sogenannten Ursprungsschäden von den Betroffenen über Jahrzehnte bemerkenswert gut kompensiert, leiden sie jetzt massiv unter Folgeschäden wie Nacken- und Rückenschmerzen sowie im Bereich der Extremitäten an Schulter-, Knie- und Hüftschmerzen. Weiterhin liegt ein deutlich erhöhter Anteil an psychischen Beeinträchtigungen vor. Durch das Schwerpunktzentrum wollen wir die bisher festgestellte Unterversorgung und vor allem die Fehlversorgung der Betroffenen vermeiden“, sagte Prof. Dr. Klaus M. Peters, ärztlicher Leiter des Schwerpunktzentrums und Chefarzt der Orthopädie in der Dr. Becker Rhein-Sieg-Klinik Nümbrecht.
 
Udo Herterich, Vorsitzender des Interessenverbandes Contergangeschädigter NRW, hat sich intensiv für die Einrichtung eines Schwerpunktzentrums eingesetzt. „Als Betroffene benötigen wir Expertinnen und Experten, die Erfahrung mit contergangeschädigten Menschen und ihren besonderen Bedarfen haben. Wichtig sind multidisziplinäre Untersuchungen und Therapien. Im Schwerpunktzentrum wird es darum gehen, therapeutische Lösungsangebote auszuprobieren, aber auch eine umfassende Beratung zu bekommen hinsichtlich unserer besonderen Bedarfe im Wohnumfeld und Alltag“, so Herterich.
 
Im Schwerpunktzentrum werden während eines mehrtägigen ambulanten Aufenthaltes körperliche und gegebenenfalls psychische Folgeschäden der Conterganschädigungen diagnostiziert. Ein individuell erstellter Therapieplan enthält neben ärztlichen und zahnärztlichen Behandlungen auch Empfehlungen für weitere Maßnahmen wie etwa Psycho-, Physio- oder Ergotherapie oder Ernährungsberatung. Zu den weiteren Angeboten des Zentrums gehören Präventionsmaßnahmen zur Begrenzung von Folgeschäden sowie die Ermittlung des Bedarfs an Hilfsmitteln – wie etwa Rollstühle oder spezielle Betten – sowie Unterstützung bei deren Inanspruchnahme.
 
Der ganzheitliche Ansatz wird in Nümbrecht von einem multidisziplinären Team umgesetzt, das aus Ärztinnen und Ärzten verschiedener Fachrichtungen (z.B. Orthopädie, Innere Medizin, Schmerztherapie, Zahnmedizin), Fachpersonal anderer Gesundheitsberufe (z.B. Physio- oder Ergotherapie, Anpassung von Hilfsmitteln) und Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern besteht und durch Gebärdendolmetschende unterstützt wird.

Hintergrund

Contergan / Wirkstoff Thalidomid

Allein in Deutschland wurden durch das Medikament Contergan mit dem Wirkstoff Thalidomid, das im Jahr 1957 als Schlaf- und Beruhigungsmittel auf den Markt gebracht und Ende 1961 von der Herstellerfirma zurückgezogen wurde, etwa 5000 Menschen geschädigt. Bei der Einnahme in der frühen Schwangerschaft verursachte Thalidomid Schädigungen an Embryonen. Heute leben noch rund 2400 contergangeschädigte Menschen, davon rund 800 in Nordrhein-Westfalen.

Versorgungsstudie zur Lebenssituation contergangeschädigter Menschen

Die Studie des Landes NRW „Gesundheitsschäden, psychosozialen Beeinträchtigungen und Versorgungsleiden von contergangeschädigten Menschen aus NRW in der Langzeitperspektive“ (2015) lieferte erstmals umfangreiche Fakten zur Lebenssituation der Betroffenen und Vorschläge zur Verbesserung der Versorgung. An der Studie nahmen 202 contergangeschädigte Menschen aus NRW teil. Die Studie ist abrufbar unter www.mgepa.nrw.de/mediapool/pdf/gesundheit/contergangeschaedigte-Abschlussbericht.pdf

Historisch-wissenschaftliche Forschung zu Contergan

Nordrhein-Westfalen hat die Rolle des Landes im Contergan-Skandal in einem historisch-wissenschaftlichen Gutachten aufarbeiten lassen, da die Herstellerfirma ihren Sitz in NRW hat und Gesundheitsbehörden und die Justiz des Landes an den Vorgängen beteiligt waren. Nicht zuletzt soll diese Forschungsarbeit den Respekt des Landes vor dem Schicksal und der Lebensleistung von contergangeschädigten Menschen zum Ausdruck bringen. Die Studie hat bezogen auf die damalige Rolle des Landes drei Schwerpunkte:
  • die Rolle der staatlichen Arzneimittelaufsicht vor und während der Vertriebsphase Contergans,
  • die gesundheits- und sozialpolitischen Reaktionen des Landes,
  • das umfangreiche Strafrechtsverfahren
Studie abrufbar unter: www.mgepa.nrw.de/ministerium/presse/pressethemen/20160513_Contergan/index.php

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