Danke, dass Sie geblieben sind! – Sechzig Jahre Integrationsgeschichte in Deutschland und Nordrhein-Westfalen
Gastbeitrag von Ministerpräsident Hendrik Wüst in der Ausgabe vom 18. Februar 2022 der türkischen Tageszeitung „Hürriyet“ anlässlich 60 Jahre deutsch-türkisches Anwerbeabkommen
Am 27. September 1961 fährt ein Zug im Bahnhof Köln-Deutz ein, die Fahrgäste haben eine lange Reise hinter sich. Von Istanbul aus ging es über Sofia, Belgrad und München bis ins Rheinland. Ziel: die Ford-Werke in Köln-Niehl. Als erstes Unternehmen in Deutschland wirbt Ford türki-sche Arbeitskräfte an, die ersten von ihnen sitzen in diesem Zug. Schon elf Jahre später arbeiten über 12.000 türkische Arbeitskräfte bei Ford, 1978 wird das erste türkische Mitglied in den Aufsichtsrat gewählt. Einer der sogenannten Gastarbeiter holt – wie viele andere mit ihm – 1969 sei-ne Familie nach, Frau und Sohn kommen nach Köln. 51 Jahre später wird dieser Sohn zum Aushängeschild der modernen Wissenschaft und Sinnbild der Hoffnung in ganz Deutschland, auf der ganzen Welt. Der Name des Sohnes ist Uğur Şahin, der gemeinsam mit seiner Frau Özlem Türeci den ersten Impfstoff gegen das Corona-Virus entwickelt hat.
Die Geschichte von Uğur Şahin und Özlem Türeci ist der Inbegriff des Aufstiegs durch Bildung, der erfolgreichen Integration. Ähnliche Geschichten – weniger prominent und in den verschiedensten Ausprägungen – gibt es tausendfach, ja millionenfach in Nordrhein-Westfalen, in ganz Deutschland. Nordrhein-Westfalen ist Einwanderungsland. Vielfalt gehört zu unserer DNA, unser Land ist geprägt von einer besonderen Integrationsgeschichte. Einer Geschichte, in der die Erzählung vom sozialen Aufstieg durch Fleiß und gute Bildung immer eine besondere Rolle spielte – die aber ebenso gekennzeichnet war von harter Arbeit, um in Deutschland Fuß zu fassen und sich eine neue Heimat aufzubauen, von Widerständen und Rückschlägen. Diese Integrationsgeschichte ist die Geschichte jedes Einzelnen der sogenannten Gastarbeiter, von jenen Menschen, die in den 60ern aus der Türkei, aus Italien, Spanien, Portugal oder Griechenland zu uns kamen. Sie ist die Summe jeder persönlichen Biographie. Mit der Zuwanderung vieler Menschen nach Nordrhein-Westfalen beginnt eine Geschichte, die immer mehr zu einer gemeinsamen Geschichte wurde. Sie ist unsere Geschichte. Sie hat unser Land zu dem gemacht, was es heute ist: unsere vielfältige Heimat, die wir lieben,
Das deutsche Wirtschaftswunder und die ersten Anwerbeabkommen
Nach dem zweiten Weltkrieg fanden Flüchtlinge und Vertriebene eine neue Heimat an Rhein und Ruhr. Gemeinsam bauten die Menschen nach dem Krieg das Land, ihr Land, wieder auf. Die Entschlossenheit, mit der sie und alle Menschen in Nordrhein-Westfalen und Deutschland den Wiederaufbau vorantrieben, war ein wesentlicher Grund für das deutsche „Wirtschaftswunder“. Dieser Boom war so stark, dass die deutsche Wirtschaft in den 50er Jahren dringend zusätzliche Arbeitskräfte brauchte. 1960 wurde ein Höhepunkt erreicht, fast eine halbe Million Stellen waren offen. Gleichzeitig suchten Menschen in anderen Ländern nach Arbeit. So fand man zusammen – eine Win-Win-Situation. Waren es 1955 und 1960 erste Abkommen mit Italien, Spanien und Griechenland, erweiterte sich 1961 der Radius der Suche nach Arbeitskräften. Das Anwerbeabkommen mit der Türkei wurde geschlossen. Auf Basis dieses Abkommens reisten bis zum „Anwerbestopp“ von 1973 rund 870.000 Arbeiterinnen und Arbeiter aus der Türkei nach Deutschland. Sie fanden Arbeit im Baugewerbe, im Bergbau, in der Landwirtschaft und allen Teilen der Industrie.
Sechzig Jahre Anwerbeabkommen heißt auch 60 Jahre Integrationsgeschichte
Sechzig Jahre Anwerbeabkommen mit der Türkei sind ein guter, ein überfälliger Anlass, die ganze Vielfalt und die Leistungen der Zuwanderer der ersten Generation in den Blick zu nehmen. Sechzig Jahre Anwerbeabkommen heißt auch sechzig Jahre Integrationsgeschichte. Natürlich stand die Arbeit zunächst an erster Stelle, sie war der Grund für die Zuwanderung. Ohne die Menschen, die ihre Heimat verließen, um hier zu arbeiten, wären die Fabriken in Nordrhein-Westfalen stillgestanden. Die Arbeit war hart und die Bedingungen in einem fremden Land schwierig. Die meisten sprachen kein Deutsch. Und nicht überall wurden sie mit offenen Armen empfangen, auch das gehört zur Wahrheit. Aber wir haben zu lange über die sogenannten Gastarbeiter gesprochen, ohne ihre persönlichen Lebensgeschichten in den Mittelpunkt zu stellen. Der Blick auf ihre Vita darf sich nicht auf ihre Arbeit beschränken.
Die Anwerbung der türkischen Arbeitskräfte war ursprünglich auf maximal zwei Jahre befristet. Der Aufenthalt sollte zunächst vorübergehend, Deutschland nur Heimat auf Zeit sein. Auch deshalb blieben die Familien der Arbeiter zunächst in der alten Heimat. Das war für niemanden leicht, aber besonders schwer war es für Eltern, die ihre Kinder bei Verwandten zurücklassen mussten. Heutzutage wären die Bedingungen um ein Vielfaches leichter – wir können sekundenschnell Fotos um die Welt schicken und uns digital per Video unterhalten. Damals aber waren selbst Telefonate in die Heimat für die meisten unerschwinglich. Die Entbehrungen, die Mütter und Väter auf sich nahmen, waren enorm. Viele gaben sich mit einfachsten Unterkünften zufrieden, um mehr Geld nach Hause schicken zu können. Sie verzichteten, um ihren Familien in der Heimat ein besseres Leben zu ermöglichen. Der große Wohlstand unseres Landes und der Erfolg unserer Wirtschaft beruhen auch auf dem Fleiß dieser Gastarbeitergeneration, oft gepaart mit Entbehrungen, Einsamkeit und Heimweh. Sie haben mit ihrer Arbeit einen erheblichen Anteil daran, dass Nordrhein-Westfalen heute ein international erfolgreicher Industriestandort ist. Deutschland und Nordrhein-Westfalen stehen tief in ihrer Schuld – und sind zu großem Dank verpflichtet.
Haltung, von der wir lernen können
Aber es ist so viel mehr, was diese Menschen mit in unser Land gebracht haben, als ihre reine Arbeitskraft. Wir können viel lernen von der Haltung, mit der die erste Generation der Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter ihr Leben gestaltet hat. Sie haben aus den wenigen Chancen, die es gab, viel gemacht. Ihr Lebensweg erinnert mich, bei allen Unterschieden, auch an den der Generation meiner Eltern. Sie alle handelten nach dem Grundsatz: wenn wir fleißig sind, wenn wir uns anstrengen, wenn wir die Chancen ergreifen, die sich uns bieten, dann kommen wir voran – und schaffen eine bessere Zukunft für unsere Kinder. Die Kinder sollten es besser haben!
Die Bedingungen für die Zuwanderer waren dabei allerdings ungleich schwerer. Viele von ihnen saßen über Jahre im wahrsten Sinne des Wortes auf gepackten Koffern, immer bereit aufzubrechen. Langfristige Bleibeperspektiven gab es für sie zunächst nicht. Das wirkte sich negativ auf die beiderseitigen Integrationsbemühungen aus. Erst ein zweites Abkommen mit der Türkei im Jahr 1964 beendete die Beschränkung des Aufenthalts und erlaubte den Nachzug von Familienangehörigen nach Deutschland. Nach Verkündung des Anwerbestopps und einem Militärputsch in der Türkei entschieden sich schließlich viele türkische Zuwanderinnen und Zuwanderer endgültig, in Deutschland zu bleiben und ihre Familien nachzuholen. Mit dem Nachzug von Ehepartnern und Kindern begann eine ganz neue Phase.
Integration als Prozess
Aus heutiger Perspektive ist klar, dass es viel zu lang gedauert hat, bis wir in Deutschland die ganze Dimension der Entwicklungen der 60er und 70er Jahre verstanden hatten. Fehlende Integrationsmöglichkeiten und fehlendes Verständnis für die vielen Entbehrungen machten es vielen Zuwanderern schwer, in Deutschland nicht nur physisch anzukommen, sondern auch im Kopf und im Herzen. Erst durch das Aufeinanderzugehen von bürgerschaftlichen Akteuren, den interreligiösen Dialog der Kirchen und Verbände und durch engagierte Aktionen einzelner Initiativen begann die so wichtige Integrationsarbeit. Heute ist das anders. Die Integrationspolitik ist seit Jahren ein zentrales Feld der Landes- und Bundespolitik. Dennoch gibt es weiter viel zu tun. Wir dürfen uns nicht damit zufriedengeben, dass Menschen mit Zuwanderungsgeschichte im Durchschnitt schlechtere Bildungsabschlüsse haben. Wir dürfen nicht hinnehmen, wenn der Nachname den Ausschlag gibt, ob jemand einen Job oder eine Wohnung bekommt. Wir müssen Integration in Zukunft noch mehr als Prozess verstehen, der immer weitergeht und uns alle betrifft. Wir sind gemeinsam gefordert, den Zusammenhalt unserer Gesellschaft immer wieder aufs Neue zu stärken. Gerade weil unser Land so vielfältig und die Lebensentwürfe der Menschen so unterschiedlich sind.
Wir haben alle Chancen
Die Kinder und Enkel der Gastarbeiter und der Nachkriegsgeneration leben heute zusammen. Ihre Kinder und Kindeskinder wachsen zusammen auf. Das bedeutet: Wir haben nicht nur eine gemeinsame Geschichte. Wir haben vor allem eine gemeinsame Zukunft. Die Frauen und Männer der ersten Gastarbeitergeneration haben hart gearbeitet und viele Entbehrungen ertragen, weil sie ein Ziel vor Augen hatten: Unseren Kindern soll es einmal bessergehen. Mein Ziel ist es, dass alle Menschen in unserem Land auch heute optimistisch in die Zukunft schauen und sagen können: Meinen Kindern wird es einmal bessergehen. Meine Kinder werden sich nicht sorgen müssen. Meine Kinder werden in einer sicheren und freien Welt leben, in der Wohlstand, soziale Sicherheit und Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen gewährleistet sind. Dafür haben wir alle Chancen. Keine andere Generation vor uns hatte so viele Instrumente, so viel Wissen zur Verfügung, um diese Herausforderungen erfolgreich zu meistern. Wir haben alle Chancen, das Aufstiegsversprechen, das die Generation der ersten Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter prägte, für Gegenwart und Zukunft zu erneuern. Mein Ziel ist es, dass in Nordrhein-Westfalen der Leitsatz gilt, den mir auch meine Eltern mitgegeben haben: Kannst du was, dann hast du was, dann bist du was.
Dass wir hier in Nordrhein-Westfalen alle Chancen haben, verdanken wir auch der ersten Generation von Gastarbeitern. Trotz aller Hindernisse, Widrigkeiten und auch Übergriffe entschieden sich viele von ihnen zu bleiben. Ihre Kinder und Enkel gehören heute ganz selbstverständlich zu unserem Nordrhein-Westfalen und sind Leistungsträger in Wirtschaft, Forschung und Gesellschaft. Besonders viele Gründer in Nordrhein-Westfalen haben eine Zuwanderungsgeschichte. Und dem Sohn eines Gastarbeiters bei Ford verdanken wir, verdankt die Welt, einen Impfstoff, der der Corona-Pandemie den Schrecken genommen hat. Als Ministerpräsident erfüllt es mich mit Stolz, wenn die Gastarbeiter von früher und ihre Nachkommen heute sagen: Wir sind in Nordrhein-Westfalen zuhause. Dieses Land ist unser Land.
Die vielen Zuwanderer aus der Türkei, aus Italien, Spanien, Griechenland oder Portugal, aus so vielen unterschiedlichen Ländern der Welt, waren geduldig, sie waren beharrlich. Sie sind hierhergekommen, um ein besseres Leben zu führen, um ihre Chancen zu nutzen. Sie haben unser Land, unsere Kultur, unsere Gesellschaft bereichert. Ihnen gilt unser aller Dank und Respekt. Danke, dass sie damals zu uns gekommen sind und am Wiederaufbau und Erfolg unserer Volkswirtschaft mitgearbeitet haben. Und, viel wichtiger: danke, dass sie geblieben sind!