„Mehr Demokratie für die EU“

11. Februar 2014
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Lieber Herr von Maltzahn,
sehr geehrte Frau Abgeordnete Brandtner,
lieber Axel (Schäfer),
sehr geehrter Herr Freytag von Loringhoven,
lieber Herr Janning,
sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete im Saal,
meine sehr verehrten Vertreterinnen und Vertreter des Diplomatischen Korps,
sehr geehrte Mitglieder der DGAP,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
„Wir wollen mehr Demokratie wagen.“– das war die zentrale innenpolitische Botschaft Willy Brandts in seiner Regierungserklärung im Oktober 1969. Sie setzte sich von der autoritären Kanzlerdemokratie der Adenauer-Ära ab. Sie nahm den Unmut der protestierenden Jugend auf. Und sie setzte ein Zeichen der Hoffnung und des Neuanfangs. Heute wissen wir, wie lohnend dieses Wagnis war.

Rede von

Frau Ministerin Dr. Schwall-Düren

zur Eröffnung der Veranstaltung

„Mehr Demokratie für die EU“

der Deutschen Gesellschaft für auswärtige Politik

am 10. Februar 2014 in Berlin

-       Es gilt das gesprochene Wort –

Sehr geehrter Herr von Maltzahn,

sehr geehrte Frau Abgeordnete Brandtner,

lieber Axel (Schäfer),

sehr geehrter Herr Freytag von Loringhoven,

lieber Josef Janning,

sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete im Saal,

meine sehr verehrten Vertreterinnen und Vertreter des Diplomatischen Korps,

sehr geehrte Mitglieder der DGAP,

meine sehr geehrten Damen und Herren,

Wir wollen mehr Demokratie wagen.“– das war die zentrale innenpolitische Botschaft  Willy Brandts in seiner  Regierungserklärung im Oktober 1969. Sie setzte sich von der autoritären Kanzlerdemokratie der Adenauer-Ära ab. Sie nahm den Unmut der protestierenden Jugend auf. Und sie setzte ein Zeichen der Hoffnung und des Neuanfangs.  Heute wissen wir, wie lohnend dieses Wagnis war.

Ich danke der Deutschen Gesellschaft für auswärtige Politik, daß sie mit der heutigen Veranstaltung das Thema „Mehr Demokratie für die EU“ aufgreift. 

Denn, „Mehr Demokratie wagen“ ist entscheidend für eine gute Zukunft des Europäischen Projekts. Ohne mehr Demokratie, ohne mehr Transparenz und ohne mehr Bürgerbeteiligung können wir den Vertrauensverlust bei den Bürgerinnen und Bürgern nicht wettmachen.

„Ohne die Zustimmung der Bürger“, so Bundespräsident Joachim Gauck, „kann kein Europa wachsen. Takt und Tiefe der europäischen Integration, sie werden letztlich von den europäischen Bürgerinnen und Bürgern bestimmt.“

Bis zu den Europawahlen im kommenden Mai bleibt nur wenig Zeit. Diese Wahl wird für die Zukunft der Union und die Überwindung der gegenwärtigen Krise von großer Bedeutung sein.

Anrede

Enrico Letta hat in Interviews zu Recht das Risiko hervorgehoben, daß wir bei den Wahlen im Mai 2014 das anti-europäischste Europa-Parlament bekommen, das wir je hatten.

Daß der „permissive Konsens“ über die europäische Integration zerbrochen ist, wissen wir alle seit langem. Doch daß der Vertrauensverlust so dramatische Ausmaße annimmt wie heute, ist alarmierend: Nach dem letzten Standard-Eurobarometer haben nur noch 31 Prozent der Europäer Vertrauen in die EU. Und zwei Drittel meinen, daß ihre Stimme in der EU nicht zählt.

Trotz euroskeptischer Stimmungen auch bei uns in Deutschland ist unser Land heute, wenn nicht der europäischste, so doch der am wenigsten anti-europäische Mitgliedstaat. Die Bürgerinnen und Bürger wissen: Deutschland braucht ein starkes und stabiles Europa mit handlungsfähigen Institutionen. Darauf sind wir nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch angewiesen. Und wir haben eine historische Verantwortung dafür, daß das europäische Projekt glückt und nicht scheitert.

Unsere neue Bundesregierung sollte sich bald der europapolitischen Leitfrage stellen, die Bundespräsident Joachim Gauck so formuliert hat: „Wie kann ein demokratisches Europa aussehen, das dem Bürger Ängste nimmt, ihm Gestaltungsmöglichkeiten einräumt, kurz: mit dem er sich identifizieren kann?“

Ich denke, die Bürgerinnen und Bürger können von Regierung und Parlament eine klare Ansage und eine klare Perspektive in Sachen Europapolitik erwarten.

Klare Ansage heißt: Noch so wohlgemeintes Schönreden bringt der EU kein verlorenes Vertrauen zurück.  Wir dürfen die Menschen nicht mit ihren kritischen Fragen und Zweifeln allein lassen. Nicht jede Kritik an der EU ist gleich anti-europäisch. Wir sollten Defizite und Fehlentwicklungen besser selbst beim Namen nennen anstatt sie von den Feinden Europas ausschlachten zu lassen.

Anrede

In ihrem Bericht „Refaire l’Europe“ haben vier Ex-Spitzendiplomaten[1]unter Führung von Pierre de Boissieu[2] Ende 2013 klare Worte gefunden:

·      Der Europäische Rat hat alle politisch zentralen Entscheidungen an sich gezogen. Er kümmert sich nicht nur um die Grundsatzfragen, sondern versucht sich auch im fachpolitischen Mikromanagement. Damit übernimmt er sich.

·      Die einzelnen Ratsformationen nehmen ihre Entscheidungsverantwortung nicht genügend wahr: sie legen mehr und mehr Streitfragen dem Europäischen Rat vor. Der Rat „Allgemeine Angelegenheiten“ ist kein wirksamer politischer Filter.

·       Die EU-Kommission fällt für sie als politischer Motor weitgehend aus, sie vollzieht die Vorgaben des Europäischen Rates. Und mit 28 Mitgliedern kann sie nicht mehr wirklich als Kollegialorgan funktionieren.

·       Mitgliedstaaten und EU-Institutionen gehen zu lax mit den EU-Verträgen um, besonders mit der Kompetenzverteilung und mit dem Subsidiaritätsprinzip.

Es ist schade, dass Pierre de Boissieu und seine Mitstreiter die demokratiepolitischen Fehlentwicklungen der letzten Jahre gar nicht in den Blick nehmen. Hier bringt EP-Präsident Martin Schulz die Dinge auf den Punkt:

·       Durch die „Vergipfelung“ des EU-Krisenmanagements sind das Europaparlament und die nationalen Parlamente von den Regierungen zusehends an den Rand gedrängt worden. Als perpetuierter Ausnahmezustand gefährdet das die Demokratie.[3]

·      Die EU wird heute von den Bürgern als eine „riesige undurchsichtige Bürokratie“ wahrgenommen. Sie haben den Eindruck, „in Brüssel findet ein einziges Gekungel statt“. Ursache dafür ist die mangelnde Transparenz der Entscheidungsprozesse.[4]

„Konsolidierung“ - der Eurozone, der Gemeinschaftspolitiken und der EU-Institutionen – das soll nach dem De-Boissieu-Bericht die Perspektive für das nächste Jahrzehnt sein. Der Bericht warnt vor immer neuen Vertragsänderungen und der Vorstellung, institutionelle Reformen produzierten automatisch eine bessere Politik. Die Debatte um neue Vertragsreformen werde mehr und mehr zum politischen Handlungsersatz.

Anrede

So notwendig die Konsolidierung auch ist,  als politische Perspektive ist sie mir nicht ambitiös genug. Ein „Weiter so!“ kann sich die EU nicht mehr leisten. Ich finde die Bürgerinnen und Bürger können von der Europapolitik mehr erwarten.

Ich teile die Einschätzung, daß eine neue Vertragsrevision heute kein realistisches politisches Ziel ist. Es gibt dafür in vielen Mitgliedstaaten keine Unterstützung. Und manche sähen darin nur die Gelegenheit, um weniger statt mehr Europa zu fordern. Die Menschen wollen keine „institutionelle Nabelschau“[5], sondern konkrete Verbesserungen.  

Auch ohne Vertragsänderungen, ohne Konvent und ohne Ratifizierungsverfahren können wir schon heute die EU demokratischer und transparenter machen. Das kann durch einen Wandel in der politischen Kultur der europäischen Institutionen gelingen.

Wir sollten das aktuelle diplomatische Verhandlungsregime auf den Prüfstand stellen, das auf das Aushandeln von Kompromissen unter Ausschluß der Öffentlichkeit setzt.

Als Alternatuive sollten wir über ein politisiertes, offenes Beratungs- und Entscheidungsverfahren reden, das durch öffentliche Kontroverse und durch Mehrheitsentscheidungen gekennzeichnet ist.

Ich teile die Skepsis, ob die EU auf absehbare Zeit eine Massendemokratie nach dem Vorbild der Mitgliedstaaten werden kann. Daher setze ich weniger auf die schrittweise Übertragung von institutionellen Mustern nationaler Demokratie auf die EU als auf konkrete partizipative Ansätze.


Anrede

Für mich steht im Mittelpunkt die Frage, welche Rechte die Bürger zur Beeinflussung und Kontrolle des EU-Governancesystems haben, das direkt auf ihr Leben Einfluß nimmt. Für eine bessere demokratische Teilhabe brauchen wir vor allem eine stärkere "Politisierung europäischer Politik". Damit meine ich eine offene Auseinandersetzung über das Für und Wider europäischer Vorhaben und über die „richtige" Europapolitik. Demokratie lebt von der öffentlichen Auseinandersetzung um alternative politische Konzepte, Ansätze und Lösungsmöglichkeiten. Martin Schulz hat das in dem Satz zugespitzt: „Demokratie braucht Streit“[6].

Der Streit über die Euro-Rettungsmaßnahmen war insoweit ein demokratiepolitischer Fortschritt. Ebenso wie die öffentlichen Auseinandersetzungen um die Dienstleistungsrichtlinie und um ACTA[7]. Ich rechne im Übrigen mit ähnlich heftigen Reaktionen in der Öffentlichkeit, wenn die Geheimniskrämerei um das Freihandelsabkommen mit den USA so fortgesetzt wird wie bisher.

Ich kenne natürlich die grundsätzlichen Einwendungen der Verteidiger des herkömmlichen Verhandlungsregimes. Aber schon im 19. Jahrhundert hat die monarchische Exekutive den Demokraten entgegengehalten, ihre Forderungen nach Öffentlichkeit gefährdeten die Entscheidungseffizienz und Problemlösungsfähigkeit. Heute können diese Belange in einem demokratischen System nur begrenzte Ausnahmen von der Regel der Öffentlichkeit rechtfertigen.

Ich plädiere daher für einen demokratischen politischen Kulturwandel in der EU.

Die EU-Verträge bieten dafür genügend Raum, man muß ihn politisch nutzen. Notwendig sind Änderungen einiger Geschäftsordnungen und der institutionellen Praxis. Auch innerstaatlich kann einiges getan werden. Politisch wäre allerdings eine enorme Kraftanstrengung notwendig.

Anrede

Ich möchte hier keine Vorschläge machen, sondern nur einige Fragen aufwerfen, um einen politischen Diskussionsprozess anzustoßen.

·      Können wir das deutsche Kommissionsmitglied heute noch in einem Verfahren auswählen, das der Ernennung eines Kardinals durch den Pabst gleicht? Was spricht dagegen, daß sich Regierung und Parlament auf politische Auswahlkriterien verständigen und ein transparentes Auswahlverfahren organisieren?

·      Warum erfahren wir über den Verlauf von Sitzungen der EU-Kommission weniger als über Kabinettsitzungen der Bundesregierung? Müssen politische Kontroversen innerhalb der Kommission tabuisiert werden? Was spricht dagegen, daß Kommissare dissenting votes veröffentlichen können? Warum sollen Änderungsvorschläge nicht veröffentlicht werden, die Kommissare zu Rechtsetzungsvorhaben eingebracht haben, die nicht aus ihrem eigenen Ressort stammen?

·      Müssen im Europäischen Parlament eigentlich 80 Prozent der Gesetze nach informellen Trilogen über first reading agreements beschlossen werden?

·      Muß nicht auch der Rat Mut zu mehr Demokratie und Transparenz zeigen? Müssen die Minister eigentlich nur dann öffentlich tagen, wenn sie erzielte Kompromisse abfeiern wollen?  Sollen ihre politischen Kontroversen für Parlamente und Bürger nicht sichtbar werden?  

Ist es noch hinnehmbar, daß Europaparlamentarier nur auf verschlungenen Wegen in Erfahrung bringen können, wie der Verhandlungsstand im Rat zu bestimmten Dossiers ist? Warum soll das EP die Ratsarbeiten nicht als Beobachter verfolgen können – so wie das umgekehrt seit langem der Fall ist?

·      Und der Europäische Rat? Kann er sich demokratischer Öffentlichkeit verschließen, obwohl er heute das Machtzentrum der Union ist und lebenswichtige Entscheidungen für die Bürger trifft? Wie können wir es als Demokraten akzeptieren, daß nur die Staats- und Regierungschefs selbst, die Herren Van Rompuy und Barroso sowie ihre engsten Mitarbeiter wissen, was im Europäischen Rat genau vorgeht? Wie sollen Parlamente unter diesen Umständen ihre Regierungen wirksam kontrollieren können?

Anrede

Ich weiß sehr genau: Der Weg, den ich zur Diskussion stelle, ist schwierig und lang. Ein Wandel der politisch-administrativen Kultur muss mit dem Widerstand der betroffenen Akteure, besonders der Exekutiven rechnen. Politisch hat er nur eine Chance, wenn Parlamente, politische Parteien und Medien in den Mitgliedstaaten und auf der EU-Ebene sich die Idee zu eigen machen und konkrete Schritte verlangen.

Ich weiß aber auch: Wir müssen mehr Demokratie und Transparenz in Europa wagen, wenn wir das europäische Projekt sichern und langfristig ausbauen wollen.

Ich sehe das Risiko, dass der Pfad des demokratischen Kulturwandels politisch ebenso blockiert wird wie der Pfad einer Vertragsrevision. Das Vertrauen der Bürger in europäisches Regieren und die EU-Gesetzgebung kann dann weiter schwinden und der Druck zugunsten eines substantiellen Rückbaus der EU-Kompetenzen weiter zunehmen. Das wäre für mich ein hoher - ein zu hoher - Preis für die Verweigerung eines demokratischen Kulturwandels.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

[1] Tom de Bruin, ehem. Ständiger Vertreter NL; Stephen Wall, ehem. Ständiger Vertreter GB; Antonio Vitorino, ehem. EU-Kommissar

[2] ehem. franz. Ständiger Vertreter, Ex-Generalsekretär des Rates

[3] Humboldt-Rede „Das demokratische Europa“ vom 24.5.2012, Berliner Europa-Rede vom 9.11.2012

[4] Interview mit „Zeit online“ vom 19.8.2013, Interview in „Der Spiegel“ vom 4.11.2013.

[5] Martin Schulz, Humboldt-Rede vom 24.5.2012

[6] Humboldt-Rede vom 24.5.2012, S.5

[7] Anti-Counterfeiting Trade Agreement