Grußwort von Frau Dr. Angelica Schwall-Düren, Ministerin für Bundesangelegenheiten, Europa und Medien des Landes Nordrhein-Westfalen anlässlich des 58. Bundeskongresses der Europa-Union Deutschland am 27.10.2012 „Mehr Europa wagen!“

27. Oktober 2012
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Sehr geehrte Frau Landtagspräsidentin,
Sehr geehrter Herr Wieland,
Sehr geehrter Herr Martin Schulz,
sehr geehrte Damen und Herren,

Wissen Sie noch, wo Sie am Vormittag des 12. Oktober 2012 waren?

Sehr geehrte Frau Landtagspräsidentin,

Sehr geehrter Herr Wieland,

Sehr geehrter Herr Martin Schulz,

sehr geehrte Damen und Herren,

I.

Wissen Sie noch, wo Sie am Vormittag des 12. Oktober 2012 waren?

Ich werde diesen Tag nicht vergessen.

Was mich betrifft weiß ich es noch sehr genau: In Nordrhein-Westfalen waren Herbstferien, ich hatte ein verlängertes Wochenende und war mit Freunden beim Wandern, als sich plötzlich diverse Telefone meldeten: Die Nachricht, dass die EU mit dem Friedens-Nobelpreis ausgezeichnet worden war, ging um die Welt.

Ich würde jetzt gerne behaupten, dass in diesem Moment die Sonne durch die Wolken brach… doch ich will lieber bei der Wahrheit bleiben…

Trotzdem: ich weiß nicht, wie es Ihnen ging, als Sie diese Nachricht hörten – aber ich fühlte mich auf einmal wie elektrisiert!

Seit Monaten, ja, seit Jahren wird Europa in der Öffentlichkeit überwiegend mit der Krise in Verbindung gebracht. Wenn Sie „Europe+crisis“ in eine Internet-Suchmaschine Ihrer Wahl eingeben, bekommen Sie zwischen 200.000 und 500.000 Hits!

Es war zweifellos schon einmal einfacher, in der Öffentlichkeit den Standpunkt überzeugter Europäer und Europäerinnen einzunehmen als in den letzen Jahren und Monaten!

Vor allem in letzter Zeit begegneten die Menschen, die wir von den Vorteilen, - ja: von der Notwendigkeit! - einer starken Europäischen Union überzeugen wollen, dem Thema in weit größerem Maße als früher mit Gleichgültigkeit, wenn nicht gar mit Ablehnung.

Dabei erleben wir trotzdem gleichzeitig auch immer wieder die beinahe schizophrene Situation, dass dieselben Menschen, die der Europäischen Union kritisch gegenüberstehen, ihre Errungenschaften täglich nutzen und als selbstverständlich ansehen, oder, wie Eurobarometer immer wieder zeigen – sogar „mehr Europa“ fordern in Bereichen, die ihnen wichtig sind.

Ich möchte Ihnen allen deshalb hier noch einmal ausdrücklich meinen Respekt dafür zollen, dass sie in dieser Zeit ihre Kraft und ihr Engagement diesem Thema widmen!

Und wenn ich auch nicht so weit gehen will, zu sagen „Wir sind Nobelpreis“ (das wäre denn doch vielleicht etwas unangemessen…) bin ich trotzdem der Meinung, dass gerade Mitglieder der Europa-Union berechtigt sind, darauf hinzuweisen, wie viel sie in den 65 Jahren seit Gründung der Europäischen Bewegung für Europa erreicht haben. Und dass somit zumindest ein Teil dieser Ehre auch ihnen gebührt!

II.

(Anrede,)

Ist dadurch jetzt alles anders?

Wohl kaum.

Die Reaktionen auf diese Auszeichnung sind ja nicht nur positiv – es gibt genügend Zeitgenossen, die auch in dieser Situation genießerisch darauf hinweisen, dass die Europäische Union voller Konstruktionsfehler, Schwächen und Ungereimtheiten steckt.

Da kann ich natürlich – wie wohl die Mehrzahl der Nobelpreisträger seit anno 1901 - auf ein bewährtes Sprichwort verweisen, das da lautet:„Viel Feind, viel Ehr!“.

Trotzdem wissen wir selbstverständlich alle, dass es diese Konstruktionsfehler, Schwächen und Ungereimtheiten gibt. Und wir wissen auch, dass das Nobelpreis-Komitee keinem von uns die Aufgabe abnehmen wird, die Europäische Union zum Nutzen der Bürgerinnen und Bürger weiter zu stärken, zu vertiefen, sie weiter voran zu bringen, und vor allem: sie Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat und Jahr für Jahr den Menschen in Europa näher zu bringen, und ihnen zu erklären, warum wir diese Union brauchen, und wie sie uns allen nutzt.

Dennoch: gerade für überzeugte Europäerinnen und Europäer wie Sie und mich hat diese Auszeichnung eine kaum zu überschätzende Bedeutung!

Sie erinnert uns daran, dass es manchmal nützlich ist, aus dem europäischen Alltag

·        mit seinen komplizierten Themen,

·        mit seiner Kakophonie einander widersprechender Expertenmeinungen,

·        mit seinen Krisengipfeln und

·        den sich jagenden Schlagzeilen

heraus zu treten.

Sie erinnert uns daran, wo wir standen, als dieser Prozess begann. Damals, 1947, als auf Ruinen die Europäische Bewegung gegründet wurde. Und wie weit wir seitdem gekommen sind!

Sie macht uns auch klar, dass der größte Teil der Menschen auf diesem Planeten von dem Ausmaß an Frieden, Sicherheit, Teilhabe, Mitbestimmung und Wohlstand, in dem wir dank der Europäischen Union leben, nur träumen können.

Sowohl aus der historischen Perspektive als auch aus der geographischen Perspektive nehmen sich die Probleme, mit denen wir hier und heute in Europa kämpfen, doch verhältnismäßig unbedeutend aus.

III.

(Anrede,)

Vor diesem Hintergrund appelliert die Auszeichnung mit dem Nobelpreis vor allem an uns Europäerinnen und Europäer, heute - wie damals! - den Mut zur Gestaltung unserer Zukunft zu haben und unser Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.

In Europa, in der Europäischen Union gibt es Probleme, und wir müssen sie lösen. Im Interesse der Welt. Im Interesse der Europäischen Union. Im Interesse der Mitgliedstaaten. Aber vor allem im Interesse der Menschen, unser Bürgerinnen und Bürger.

Aber lösen werden wir sie nur mit der Europäischen Union!

Und der Mut, den uns diese Auszeichnung gibt, sollte uns auch die Kraft (und hoffentlich die Weisheit) verleihen, mehr Europa zu wagen.

(Anrede,)

1.) „Mehr Europa wagen“ bedeutet, die Herausforderungen, vor denen wir heute auf diesem Kontinent stehen, als Gemeinschaft anzunehmen.

Denn die Krisen, die Europa seit 2008 durchlebt hat und noch durchlebt, haben eines ganz deutlich bewiesen: nationale Alleingänge sind in einer globalisierten Welt nicht erfolgversprechend.

Wir sind in Europa eine Gemeinschaft aufgrund gemeinsamer Werte, gemeinsamer Geschichte, gemeinsamer Interessen und gemeinsamer Zukunftsvorstellungen, und Grundlage jeder Gemeinschaft ist die Solidarität der Mitglieder miteinander.

Wir haben uns für diese Gemeinschaft entschieden, weil wir in der Vergangenheit schmerzhaft erfahren mussten, dass wir in einem so eng verflochtenen Europa nicht ungestraft die Interessen unserer Nachbarn außer acht lassen können.

In diesem Sinne üben wir Solidarität mit anderen Staaten nicht aus reiner Nächstenliebe, sondern weil sie der Gemeinschaft als Ganzer nutzt, und damit letztendlich wieder uns selbst.

2.) „Mehr Europa wagen“ bedeutet auch, nicht immer nur wie ein Kaninchen auf die Schlange auf drohende Gefahren zu blicken, sondern auch die Chancen wahrzunehmen, die solchen Krisen innewohnen. Friedrich Hölderlin hat gesagt „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch!“

Darum sind Krisen immer auch Momente, in denen Weichenstellungen möglich sind. Momente, in denen Optionen auftauchen, die vorher undenkbar schienen. Die man ergreifen muss, und die den Lauf der Geschichte verändern können.

Anders als manche Politikerinnen und Politiker hierzulande gerne behaupten, sind Entscheidungen über Europa auch heute nicht „alternativlos“.

Denn: Alternativen gibt es eigentlich immer. Nur: sie zu finden erfordert gerade in Krisenzeiten Imaginationsfähigkeit. Sie gegen andere Lösungen abzuwägen erfordert Klugheit. Und für sie zu kämpfen erfordert... Mut!

Aber wenn wir uns mit unserer Imaginationsfähigkeit, unserer Klugheit und unserem durch diese Auszeichnung gestärkten Mut dieser Krise unserer Gemeinschaft stellen, werden wir auch Lösungen finden! Und erst damit werden wir Europäerinnen und Europäer uns der Ehre, die das Nobelpreis-Komitee uns allen erwiesen hat, auch würdig erweisen.

Und gerade jetzt ist es daher zwingend erforderlich, dass wir uns die Frage stellen: in welchem Europa wollen wir künftig leben?

Dies sind die Überlegungen, die auch gerade die Politik den Bürgern und Bürgerinnen in diesem Moment schuldet!

3.) Meine Antwort lautet: wir brauchen

·        ein stabileres,

·        ein demokratischeres,

·        ein sozialeres,

·        ein nachhaltigeres,

·        ein innovativeres Europa,

·        mit einer echten Wirtschafts- und Währungsunion

·        zum Nutzen unserer Bürgerinnen und Bürger.

IV.

Anrede,

Wenn wir uns nun also aufmachen, mehr Europa zu wagen: was muss jetzt geschehen, damit wir diesem Europa näher kommen? Ich sehe fünf große Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen:

1.) In wirtschaftspolitischer Hinsicht müssen wir endlich Abschied nehmen von der einseitigen und völlig verfehlten Verkürzung der Politik auf Sparprogramme. Wirtschaftswissenschaftler haben es seit Jahren vorhergesagt und in der Realität ist es schon lange nicht mehr zu leugnen: das Ausmaß an Austerität, dem Europa sich unterwirft, droht, diesen Kontinent (und nicht nur ihn!) in den Abgrund zu reißen!

Vielmehr müssen wir - unter anderem gerade damit die Sanierung der Haushalte möglich wird – ernst machen mit der Förderung nachhaltigen Wachstums, das allen Menschen auf diesem Kontinent zugute kommt.

Wir brauchen die Förderung von Infrastruktur und Innovation, insbesondere den Ausbau transeuropäischer Infrastrukturnetze in den Bereichen Energie, Verkehr und IT, und wir brauchen eine innovative und nachhaltige Industriepolitik, die Menschen gute Arbeit sichert, mit Löhnen, von denen man leben kann! Wir müssen Institutionen wie die Europäische Investitionsbank stärken, indem wir ihr Stammkapital erhöhen, damit sie auch im Hinblick auf den Privatsektor Hebelwirkungen erzeugen kann. Wir brauchen darüber hinaus einen Europäischen Investitions- und Aufbaufonds und Europäische Projektanleihen.

2.) In finanzpolitischer Hinsicht ist ein EU-weit (und darüber hinaus) abgestimmtes Vorgehen zur Einhegung des Finanzsektors mehr als überfällig! Das kann zu einer dauerhaften Stabilisierung der Finanzmärkte beitragen.

Es ist eine Erleichterung, zu sehen, dass es auf dem Finanzministerrat am 9. Oktober endlich erste kleine Schritte in die richtige Richtung im Hinblick auf die Einführung einer Finanztransaktionssteuer gab: 11 EU-Staaten (FR, D, BE, AU, PT, SN, GR, IT, E, SK und EE) werden bis Weihnachten die Details klären, um im Wege der Verstärkten Zusammenarbeit die Steuer auf ihrem Territorium einzuführen.

Aber wir brauchen darüber hinaus gemeinsame Maßnahmen für eine verstärkte und systematische Bankenregulierung, insbesondere ein Verbot bestimmter spekulativer Finanzprodukte, eine Bankenunion mit europäischer Bankenaufsicht, Einlagensicherung und Bankenabwicklung, wobei es auf die konkrete Ausgestaltung ankommt, weltweite Maßnahmen gegen Hochgeschwindigkeitshandel, und vieles mehr.

Wir brauchen einen Europäischen Schuldentilgungsfonds, für den es durchaus Modelle gibt, die auch die Billigung des Bundesverfassungsgerichts finden würden - man muss sie nur wollen! (z.B. red bonds/blue bonds)

Und wir müssen uns endlich eingestehen, dass wir eine Haftungsunion nicht verhindern können. Die normative Kraft des Faktischen hat dazu geführt, dass wir sie längst haben, und zwar weil sie seit Jahren von den Märkten vorausgesetzt wurde. Das entsprach zwar vielleicht nicht den Absichten der Schöpfer der Währungsunion. Aber es nutzt nichts, vor der Realität die Augen zu verschließen. Eine Währungsunion kann sich vor spekulativen Angriffen nur schützen, wenn die Mitglieder für einander einstehen.

(Anrede),

3.) Die Wirtschafts- und Finanzpolitik gehört zweifellos zu den wichtigsten europäischen „Baustellen“.

Aber die verfehlte Konzentration der letzten Jahre auf neoliberale Deregulierungsprozesse ist nicht nur für den finanziellen Aspekt der Krise verantwortlich.

Neoliberale Dogmen und nationale Egoismen haben es darüber hinaus auch zugelassen, dass die soziale Dimension Europas immer mehr in den Hintergrund gedrängt wurde. Die Auswirkungen der Krise wirken sich daher heute in unakzeptabler Weise besonders auf die schwächeren Mitglieder der Gesellschaft in Europa aus. Ist es da ein Wunder, wenn Euroskeptizismus und Ablehnung der Währungsunion zunehmen, und die Europäische Union gerade von diesen Teilen der Bevölkerung eher als Teil des Problems denn als Teil der Lösung wahrgenommen wird?

(Anrede,)

Wir müssen der sozialen Dimension Europas in dieser Krise mindestens die gleiche Bedeutung geben wie der wirtschafts- und finanzpolitischen!

In diesem Sinne benötigen wir ein europäisches Sofortprogramm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit. Wir brauchen einen Sozialen Stabilitätspakt mit Zielen und Vorgaben für Sozial- und Bildungsausgaben.

Und wir müssen Ernst machen mit der Verwirklichung der sozialen Grundrechte, die sich in der europäischen Grunderechte-Charta finden. Viel zu wenige Europäerinnen und Europäer wissen, welches Potenzial die Grundrechte-Charta in dieser Hinsicht birgt. Neben Gleichheitsrechten wie dem Recht auf Nichtdiskriminierung enthält sie unter dem Titel „Solidarität“ nämlich auch Bestimmungen über Teilhaberechte, zum Beispiel

·        über Arbeitnehmerrechte (Art. 27 – 31),

·        über das Recht auf soziale Sicherung und soziale Unterstützung (Art. 34),

·        über das Recht auf Integration für Menschen mit Behinderungen (Art. 26),

·        über das Recht auf Gesundheitsschutz (Art. 35),

·        über das Recht auf Zugang zu Leistungen der Daseinsvorsorge (Art. 36)

Wir müssen zu unserem europäischen Sozialmodell, stehen und dafür jetzt die richtigen Weichenstellungen vornehmen! Und wir müssen mit diesen Rechten in der Europäischen Union ernst machen, wenn wir nicht wollen, dass die Menschen sich von Europa abwenden.

Denn, wie Martin Schulz so treffend bemerkt hat: Ohne Europäerinnen und Europäer gibt es auf die Dauer kein Europa!

(Anrede,)

4.) Aber auch damit bin ich nicht am Ende der Herausforderungen, die wir mit gestärktem Mut annehmen können und müssen. Mindestens genauso wichtig wie die Weichenstellungen, die wir jetzt im Hinblick auf die Wirtschafts- und Währungsunion sowie die Schaffung eines Sozialen Europas treffen müssen, ist das Ziel, künftig in unseren Staaten ebenso wie auf Ebene der EU ein Maß an Demokratie herzustellen, das den Bürgerinnen und Bürgern dieses Kontinents nicht weniger, sondern mehr Teilhabe an der Gestaltung ihrer Zukunft ermöglicht.

Wir brauchen eine Verbesserung der parlamentarischen Legitimierung europäischen Handelns ebenso wie nationalen Handelns im Hinblick auf die Europäische Union.

Im Deutschland ist - aller Kritik an gegenwärtigen Praktiken zum Trotz - in den vergangenen Jahren insbesondere aufgrund der Forderungen des Bundesverfassungsgericht viel erreicht worden: Bundestag und Bundesrat haben gelernt, ihre Rechte einzufordern und zu nutzen.

Aber auch das Europäische Parlament hat sich mit jeder Vertragsänderung neue Rechte erkämpft und bewiesen, dass es seiner Rolle als europäische Volksvertretung mehr als gewachsen ist!

Umso bedauerlicher ist es, wenn seit Beginn der Krise immer wieder versucht wird, Entscheidungen in einer Art parlamentsfreiem Raum zu treffen!

(Anrede,)

In Demokratien darf es grundsätzlich keinen parlamentsfreien Raum geben, da weiß ich mich mit dem Bundesverfassungsgericht einig!

Dennoch glaube ich, dass auch im Hinblick auf die parlamentarische Beteiligung an europäischen Beteiligungsprozessen, das Glas nicht halb leer ist, sondern halb voll!

Treten wir einen Schritt zurück und betrachten, was der Europäische Rat in diesen Wochen und Monaten tut. Er tut das, was Regierungen seit dem Westfälischen Frieden

(auf den ich als Wahl-Münsterländerin natürlich besonders gern hinweise…)

schon immer getan haben: sie schließen völkerrechtliche Verträge, und schaffen damit Fakten. Wie gesagt, so war es bisher immer.

Das Interessante an dieser Tatsache aber ist: diese altehrwürdige, vom Völkerrecht bislang sanktionierte, ja sogar vorausgesetzte Praxis wird auf einmal - und, wie ich betonen möchte, zu Recht! - als nicht mehr hinreichend demokratisch legitimiert betrachtet.

Dieser Moment hat in meinen Augen das Potenzial, ein Quantensprung des Völkervertragsrechts zu werden. Er ist durchaus vergleichbar mit dem Quantensprung, den vor wenigen Jahren das Römische Statut über den Internationalen Strafgerichtshof für die Entwicklung des Völkerstrafrechts mit sich brachte, nur in umgekehrter Richtung:

Während das Völkerstrafrecht seine Regeln als universelle Grundsätze von der überstaatlichen Ebene direkt auf die innerstaatliche Ebene bringt, wirken hier Forderungen nach mehr Demokratie von der innerstaatlichen Ebene auf die europäische und damit letztendlich auf die völkerrechtliche Ebene ein.

Denn im System der Europäischen Union ist der Europäische Rat die letzte Bastion des klassischen Völkerrechts!

Und diese erstaunliche Entwicklung wurde dadurch möglich, dass wir in den letzten Jahrzehnten mit der zunehmenden Stärkung des Europäischen Parlaments eine Blaupause dafür geschaffen haben, wie demokratische Partizipation in überstaatlichen Einheiten aussehen kann!

Daher ist jetzt ist der Moment, uns zu überlegen, wie wir die Gunst der Stunde nutzen, um der Demokratie in Europa nicht nur die nötigen Flügel verleihen, sondern ihr auch beim Abheben in eine neue Dimension helfen!

4.) Aber Demokratie ist mehr als Parlamentarismus. Neben der Legitimierung politischen Handelns ist ihr Zweck insbesondere, gute Regierungsführung im Interesse der Bürgerinnen und Bürger sicherzustellen. Diese gute Regierungsführung ist auch keineswegs ein Luxus, sondern notwendige Grundbedingung für jeden modernen demokratischen Staat. Genau das ist der Grund, warum diesem Recht in der eben bereits erwähnten Europäischen Grundrechte-Charta ein eigener Artikel gewidmet ist (Art. 41).

In manchen Mitgliedstaaten erfordert die Realisierung dieses Rechts heute Reformen zur Schaffung stabiler und handlungsfähiger demokratischer Institutionen. Hier sind alle Mitgliedstaaten der EU aufgefordert, voneinander zu lernen und gemeinsam an der Verwirklichung dieses Ziels zu arbeiten. Das ist ein langer und steiniger Weg, der von Gebenden und Nehmenden Mut (immer wieder: Mut!), Kreativität und Kompromissbereitschaft, vor allem aber Solidarität erfordert. Aber in dem Jahrzehnt, das der großen Osterweiterung vorausging, haben die Staaten Europas bewiesen, dass sie willens und in der Lage sind, solche Herausforderungen erfolgreich zu meistern – warum also nicht auch jetzt?!

5.) Last but not least: die Bürgerinnen und Bürger Europa haben von ihren Politikerinnen und Politikern mehr Ehrlichkeit und mehr Dialogbereitschaft verdient.

Zu viele Personen mit Verantwortung für das öffentliche Wohl ducken sich weg, statt den Menschen, die sie gewählt haben, zu erklären, warum sie im Hinblick auf Europa die Entscheidungen treffen, die sie treffen, und was sie mit diesen Entscheidungen zu bewirken hoffen.

Wo die öffentliche Debatte auf nationale Stereotypen zurückfällt, die wir eigentlich für immer hinter uns gelassen haben sollten, wird Europa schlimmster Schaden zugefügt!

Wo Führungsstärke für Europa im Interesse des Koalitionsfriedens oder der Lufthoheit über den Stammtischen durch „Rote Linien“ ersetzt wird, die schon Tage später wieder klammheimlich kassiert werden, kann Europa nur verlieren.

Was Europa jetzt vor allem braucht, ist Ehrlichkeit und Kommunikation.

Zu mehr Ehrlichkeit sind insbesondere Politikerinnen und Politiker aufgefordert.

Bei der Kommunikation kann jeder Europäer und jede Europäerin seinen Teil beitragen.

Stellen wir uns den Debatten, beteiligen wir uns an den Diskussionen, informieren wir die Menschen und erklären wir ihnen Europa! Geben wir ihnen von unserer Begeisterung für diesen zerrissenen Kontinent, der unser Zuhause ist, ab, und holen wir sie zu uns an Bord!

(Anrede),

Für viele von ihnen wie auch für mich ist das „unser täglich Brot“.

Nun lebt man nicht vom Brot allein, wie Sie alle wissen. Ein altes Arbeiterinnenlied fordert deshalb seit nunmehr 100 Jahren „give us bread, and give us roses“.

Aber ich würde sagen, mit dem Nobelpreis haben wir in Europa jetzt eine Rose geschenkt bekommen, deren Schönheit uns jeden Tag dazu ermutigen soll, ums europäische Brot zu kämpfen und mehr Europa zu wagen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!

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